Prolog home

Ich begegnete Jean-Marie während meines letzten Korsika-Urlaubs beim Einkauf im Supermarkt „Casino“ in Calvi. Ich kramte gerade in meinem Portemonnaie nach einem Euro für den Einkaufswagen, als er plötzlich vor mir stand und mir eine Münze in die Hand drückte. Zuerst erkannte ich ihn nicht: ein schmaler, gebeugter Mann mit schütterem Haar und zerfurchtem Gesicht, dem man nicht mehr ansah, dass er einmal der „John Travolta aus Algajola“ genannt wurde. Er freute sich überschwänglich, mich zu sehen, und lud mich spontan auf einen Apéro ein. Wir fuhren hinunter zum Hafen und gingen in eines der Lokale am Quai Landry, wo er früher einmal Stammgast gewesen war, damals, vor einer kleinen Ewigkeit, als wir eine Saison lang Kollegen gewesen waren.

„Das ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich in einem Café sitze“, sagte er wehmütig. „Wenn ich wollte, könnte ich natürlich jeden Tag in die Stadt gehen, mich draußen vor ein Café setzen und mich am Anblick der vorbeigehenden jungen Frauen erfreuen. Ich könnte zu den Klippen fahren, meine Angelrute auswerfen und die Stille genießen. Ich könnte mich mit Freunden auf ein Glas Wein verabreden oder mit ihnen eine Runde Boule spielen. Stattdessen sitze ich die meiste Zeit am Computer, ein Glas Rosé in Reichweite, und tippe mit zwei Fingern die handgeschriebenen Zettel ab, die ich im Knast geschrieben habe …“

Seit vier Monaten war Jean-Marie wieder auf freiem Fuß, wie man so schön sagt. Nur, dass seine Füße es noch nicht begriffen hatten. Nach fünf Jahren Gefängnis lässt sich das Gefühl, eingesperrt zu sein, nicht so einfach abstreifen wie ein Paar alte Turnschuhe. Es klebte unter seinen Fußsohlen wie ein zäher Klumpen Kaugummi, der sich bei jedem Schritt am Boden festsaugt. Es gaukelte ihm vor, nur einen Aktionsradius von drei Metern im Quadrat zu haben – größer waren die Zellen nicht, die er zeitweise noch mit zwei bis drei anderen Gefangenen teilen musste. Es erhielt die Gefängnismauern in seinem Kopf noch eine Weile aufrecht, bis er sich an die Freiheit gewöhnt haben würde. Denn die Freiheit machte ihm erst einmal Angst. (…)

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