Ende der Saison | home |
Betty und Sven waren Anfang Oktober nach Calvi gezogen, in eines der Appartements, die Svens Tante gehörten und die im Winter leer standen. Von der Terrasse der großzügig geschnittenen Wohnung, die im Sommer an vier bis sechs Personen vermietet wurde, hatte man einen herrlichen Blick auf das Meer und die höchsten Berge des zentralen Gebirgskamms, die bald von weißen Schneehauben gekrönt sein würden.
Der korsische Winter erschien den beiden wie das tiefe Durchatmen nach einem monatelangen Marathonlauf, den man lakonisch „Saison“ nannte. In gleichem Maße, wie die Tage kürzer und die Temperaturen moderater wurden, breitete sich angenehme Ruhe auf der ganzen Insel aus, die nicht nur die Natur zu erfassen schien, sondern auch ihre Bewohner, als hätte man dem Trinkwassereine ordentliche Portion Baldrian beigemischt.
Sven und Betty hatten sich von diesem neuen Lebensgefühl anstecken lassen: Oft lagen sie bis mittags im Bett, um den restlichen Tag zusammen mit Freunden an der Theke einer Bar zu vertrödeln, ohne auch nur den Hauch eines schlechten Gewissens zu verspüren. Oder sie unternahmen mit Svens VW-Bus ausgedehnte Ausflüge ins Landesinnere, von denen sie immer etwas Essbares mitbrachten: anfangs Feigen und Pflaumen, später Esskastanien, dann Orangen und die Früchte des wild wachsenden Erdbeerbaums, die zwar fade schmeckten, aber hervorragend zu Marmelade verarbeitet werden konnten. In regelrechtes Entzücken versetzte Betty ein Kakibaum, den sie eines Abends nach einem Strandspaziergang in einem verwilderten Garten entdeckten. Die von der untergehenden Sonne angestrahlten, orangefarbenen Früchte leuchteten an dem blätterlosen, dunklen Baum wie bunte Lampions in einem Biergarten. (…)