Der Legionärhome

In der kleinen Pfarrkirche von Casamaccioli war es trotz der seit Wochen andauernden Hitze angenehm kühl. Die wenigen Kerzen, die vor dem hölzernen Madonnenbildnis der Santa di u Niolu brannten, flackerten leicht und ließen das Gesicht der Heiligen Jungfrau erschreckend lebendig erscheinen. Ein Mann saß in der vordersten Bank direkt vor der Statue und starrte in das lächelnde Gesicht, als erwarte er jeden Moment ein Wunder. Er trug eine graue Kargohose und ein dunkelblaues Shirt mit weißem Aufdruck „2º REP Calvi“. Sein rasierter Schädel saß auf einem muskulösen Nacken, wie man ihn bei Sportlern und Berufssoldaten sieht, und sein linker Oberarm war tätowiert: ein an den Rändern ausgefranstes Herz, das von zwei Schwertern durchbohrt wurde. Es war Jacques, der Legionär.

Jacques war dafür bekannt, dass er seit einiger Zeit eine Schwäche für Kirchen hatte, die er jetzt ebenso gerne und häufig frequentierte wie zuvor die Bars und Kneipen von Calvi und Umgebung. Über die Ursache seiner Sinneswandlung gab es nur Spekulationen. Die einen meinten, er habe als Legionär sicherlich jede Menge schrecklicher Gräueltaten begangen, die ihn jetzt, wo er langsam alt wurde, nicht mehr schlafen ließen und in die Kirche trieben. Die anderen hielten seine Kirchgänge eher für eine Art Hobby, verbunden mit Wanderungen quer über die Insel und einem spät erwachten Interesse an kunsthistorisch bemerkenswerten Gebäuden, zu denen nun einmal auch die Kirchen zählen. Wieder andere meinten, Jacques müsse Opfer einer rätselhaften Geisteskrankheit sein, deren Ausdruck eine Art religiöser Wahn sei und früher oder später zur geistigen Umnachtung führe …

Auf die Idee, dass Jacques am helllichten Tage und bei klarem Verstand in der Kirche von Calvi eine Art Bekehrung erlebt hatte, und dass er seitdem an keiner Kirche mehr vorbeigehen konnte, ohne zumindest einen Blick hineinzuwerfen, auf diese Idee wäre wohl keiner gekommen, der Jacques von früher kannte. Und doch war dies der wahre Grund für seine Kirchgänge. (…)

home Impressum Datenschutzerklärung